Wieder donnerte es im nächsten Augenblick zuckte ein heller Blitz über den Himmel. In Strömen prasselten schwere Regentropfen hinunter auf die Erde. Der Himmel war grau, fast schwarz, es wirkte, als wäre es tiefste Nacht, dabei war es erst früher Nachmittag. Bei so einem Gewitter ging natürlich niemand spazieren. Wäre jedoch jemand die kleine Straße, die auf den Hügel führt, hinauf gegangen, hätte er wahrscheinlich das Mädchen gesehen, das auf einem Fensterbrett im Inneren des Hauses auf dem Hügel hockte. Sie sah merkwürdig aus: Sie hatte hellblonde Haare, die sie hinten zu einem Zopf geflochten hatte, dazu trug sie eine grüne Bluse und eine Hose, die aus vielen bunten Flicken zu bestehen schien. Ja, tatsächlich trug sie eine Hose, dabei durften Mädchen ja gar keine Hosen tragen, das weiß man doch. Nur wer im kleinen Dorf am Fuße des Hügels wohnt, weiß, dass dieses Mädchen Luna heißt und ihre Tante ihr schon hundertmal gesagt hat, dass sie diese „grässliche“ Hose nicht mehr anziehen darf. Immer noch klatschten die Regentropfen gegen die Scheibe, Luna lachte: sie mochte Regen ebenso gerne wie Sonnenschein. Jetzt sprang sie auf und ging zur Tür. Sie wollte gerade die Tür aufstoßen, als eine raue Stimme sie zurück hielt: „Kind! Wo willst du hin? Und in dieser Aufmachung, wo ist dein Kleid?“ Luna wirbelte herum, vor ihr stand ihre alte Tante Mathilda. Sie trug ein graues Kleid, ihre Haare waren ihr am Hinterkopf zu einem straffen Knoten zusammengebunden. „Um Himmelswillen, zieh sofort diese Hose aus!“, zeterte sie weiter mit leichtem Naserümpfen. „Aber Tante Mathilda…“, versuchte es Luna „Ich dulde keinen Widerspruch“, sagte Tante Mathilda streng „Geh in dein Zimmer“, und damit deutete sie auf die Tür, die zu den anderen Räumen führte. Luna trottete in ihr Zimmer und schlug die Tür zu. Vielleicht denkt ihr jetzt, dass Luna sich ein Kleid anziehen und in ihrem Zimmer bleiben würde, wie ihre Tante es gesagt hatte, aber da kennt ihr Luna schlecht. Luna knetete ihr linkes Ohrläppchen, wie sie es immer tat, wenn sie scharf nachdachte. Plötzlich grinste sie und sprang auf, sie zog ihr rotes Baumwollkleid an, dann stopfte sie ihre kunterbunte Hose in den kleinen Lederbeutel, der immer an ihrem Gürtel baumelte und ging zurück ins Wohnzimmer. Ihre Tante saß in ihrem Sessel und strickte. „Kind, wo willst du hin?“, fragte Tante Mathilda. „I-ich wollte nur spazieren gehen“, stotterte Luna. „Bei diesem Wetter?“, fragte Tante Mathilda und stand auf, „außerdem frage ich mich, was du in deinem Beutel mitführst.“ „Och, nur ein paar Steine“, antwortete Luna in beiläufigem Ton. „Nur ein paar Steine? Dann zeig sie mir doch mal, sie sind sicher sehr schön“, sagte Tante Mathilda herausfordernd lächelnd. „Alter Drache“, dachte Luna und mit zitternden Fingern reichte sie ihrer Tante den Beutel. Diese nahm ihn mit spitzen Fingern in Empfang und öffnete ihn unter Lunas spöttischem Blick. Tante Mathilda zog Lunas Hose aus dem Beutel, nun war es an ihr, spöttisch zu gucken. „Warte hier“, befahl sie. Und mit diesen Worten ging sie durch die Tür, die auch zu Lunas Zimmer führte. Kurz darauf kam sie zurück, ohne Hose. „Geh sofort in dein Zimmer“, befahl Tante Mathilda. Mit hängenden Schultern schlurfte Luna in den Flur, sie wollte gerade in ihr Zimmer gehen, da fiel ihr etwas ein: natürlich wusste sie, wo ihre Hose war. Leise schlich Luna sich zwei Türen weiter ins Schlafzimmer ihrer Tante. Sie stieß die Tür auf, die leise knarrte. Hier stand ein Bett in der Ecke, ein kleiner hölzerner Tisch und ein dazu passender Stuhl. Direkt neben dem Tisch stand ein ganz kleiner Papierkorb und in dem Papierkorb lag ein kleines schmutziges und buntes Häufchen. Mit siegessicherer Miene griff sie in den Papierkorb. In diesem Augenblick hörte sie Schritte auf dem Flur.
Fortsetzung folgt!